Martin Jarrath, Kiel
Um zu verstehen, was zwischen 2022 und 2027 im UNESCO Baltic Sea Project passieren soll, ist es gut, zunächst einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, in das Jahr 1989.
Anfang 1989 waren Europa und die Welt geteilt, in NATO und Warschauer Pakt, in zwei konkurrierende Militärbündnisse, in West und Ost. Die Grenze zwischen NATO und Warschauer Pakt verlief genau zwischen den beiden deutschen Staaten, die es damals gab, sie verlief mitten durch Berlin und quer durch die Ostsee. „Eiserner Vorhang“ wurde die Grenze genannt, und genau das war sie auch zwischen der damaligen Bundesrepublik und der DDR, ganz buchstäblich. Wenig sprach zu Beginn des Jahres 1989 dafür, dass sich daran schon bald etwas ändern könnte.
1989 war die Ostsee ein stark mit Schadstoffen belastetes Meer. Die Verschmutzung stieg weiter an, vor allem durch mündende Flüsse aus den umliegenden Staaten. In dieser Zeit hatte die finnische Lehrerin Liisa Jääskeläinen – und mit ihr das Bildungsministerium in Helsinki – die Idee, Schulen aus den damals sieben Ostsee-Anrainerstaaten (Dänemark, Schweden, Finnland, die Sowjetunion, Polen, die DDR und die Bundesrepublik Deutschland) zusammenzubringen, damit Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler gemeinsam an Umweltschutzthemen arbeiten und sich dabei begegnen können, über den Eisernen Vorhang hinweg.
Bemerkenswerterweise stieß diese Initiative in allen sieben Ostsee-Staaten auf positive Resonanz, es fand eine Gründungsversammlung statt, noch 1989, ein Name wurde gefunden, The Baltic Sea Project, das Ostseeprojekt, abgekürzt BSP. Liisa Jääskeläinen wurde die erste Generalkoordinatorin des BSP. Die Anfangszeit war schwierig, das galt vor allem für die Kommunikation und den Austausch zwischen den Staaten auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Trotzdem gab es schon zu Beginn eine Menge kleiner und größerer Projekte und mit der Zeit immer mehr internationale Initiativen. Davon zeugen zum Beispiel die über einen langen Zeitraum alle sechs Monate erschienenen BSP-Newsletter – viele davon sind heute digitalisiert auf der BSP-Internetseite verfügbar – und die zahlreichen BSP Learners‘ Guides – Bücher für Lehrende und Lernende, alle in der einen Fremdsprache geschrieben, welche die BSP-Staaten gemeinsam haben, in Englisch – auch die Learners‘ Guides sind digital herunterladbar.
Bemerkenswert ist auch, dass alle Ostsee-Anrainerstaaten, die aus dem Umbruch nach 1989 neu hervorgegangen sind, ebenfalls Mitglieder des BSP wurden, und so sind nun – seit beinahe dreißig Jahren unverändert – neun Staaten Teil des BSP: Dänemark, Schweden, Finnland, Russland, Estland, Lettland, Litauen, Polen und Deutschland.
Auch die schon ganz zu Anfang von Liisa Jääskeläinen angelegte Organisationsstruktur hat bis heute Bestand: Die Mitgliedsschulen arbeiten mit den Programmen und Materialien des BSP, sie nehmen an den zweimal jährlichen nationalen Treffen und, so weit möglich, an weiteren nationalen und internationalen BSP-Veranstaltungen teil, an Unterrichtsprojekten, Camps, Konferenzen und – schon seit dem Jahr 2000 – an internationalen digitalen Konferenzen. Kreativität und Eigeninitiative sind erwünscht: Alle aktuellen Programme, alle Konferenzen, Camps, Wettbewerbe, Learners‘ Guides und so weiter entstammen ursprünglich der Initiative Einzelner oder einer kleinen Gruppe von Akteuren im BSP.
Auch die deutschen Schulen haben ihren Anteil daran: BSP Learners‘ Guide 7 (Recycling) wurde von einem deutschen Herausgeberteam mit einer internationalen, auch aus einer Reihe von Schülerinnen und Schülern bestehenden Autorengruppe erarbeitet. Das einst in 10.000 Exemplaren gedruckte Buch gibt es als einzigen BSP-Learners‘ Guide auch in einer deutschen Übersetzung, letzte gedruckte Exemplare in beiden Sprachen sind erhältlich. Das in zweijährigem Rhythmus stattfindende internationale BSP Årø Camp – benannt nach der gleichnamigen dänischen Insel bei Hadersleben, auf der es stattfindet – wird vom deutschen BSP koordiniert und durchgeführt. Das jüngste der offiziellen BSP-Programme, Global Citizenship Education, kam 2020 auf deutsche Initiative hinzu und wird von der Robert-Bosch-Gesamtschule in Hildesheim koordiniert. 9 der 13 deutschen BSP-Schulen liegen in Schleswig-Holstein, die meisten davon sind gleichzeitig auch UNESCO-Projektschulen. BSP Digital Årø 2021, die wegen der Corona-Pandemie rein digitale viertägige Version des Årø-Camps in diesem Jahr, war ebenfalls ein deutscher Beitrag und sehr erfolgreich, wie der Artikel der Schülerin Sara Korten in diesem Newsletter darlegt.
Hier zeigt sich die enge Verbindung des BSP mit dem weltumspannenden Netzwerk der UNESCO-Schulen – und deshalb heißt es heute in voller Länge UNESCO Baltic Sea Project: Das BSP ist ein von der UNESCO – der UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur mit Sitz in Paris – anerkanntes und beispielgebendes internationales Bildungsprojekt, das seit nun über 30 Jahren Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, weitere Interessierte und Experten aus allen neun Staaten der Ostsee-Region zusammenbringt.
Im Laufe der Zeit hat sich der inhaltliche Fokus des BSP erweitert: von einer anfänglichen Umweltbildung im engeren Sinne hin zu einer breit aufgestellten Bildung für nachhaltige Entwicklung einschließlich Elementen transformativer Bildung wie Global Citizenship Education. Geblieben ist der interkulturelle Ansatz: die Idee, dass vor allem junge Menschen aus den kulturell und sprachlich sehr verschiedenartigen neun Staaten rund um die Ostsee einander mit Respekt und Interesse begegnen, miteinander arbeiten und Neues erleben und sich auf diese Weise sehr genau kennen und schätzen lernen.
Geblieben ist auch die Koordinationsstruktur: Jede beteiligte Schule hat eine Schulkoordination, alle beteiligten Staaten haben eine nationale Koordination, zu jeder Zeit hat einer der neun Staaten die Generalkoordination des gesamten BSP inne, für jeweils drei Jahre. Ausgehend von Finnland rotiert die Generalkoordination, die Gesamtverantwortung für das ganze BSP, rund um die Ostsee, im Gegenuhrzeigersinn, das bedeutet: In den über 30 Jahren, die das Projekt nun besteht, haben alle neun BSP-Staaten mindestens einmal generalkoordiniert. Finnland, das 1989 den Anfang machte, ist aktuell als erster Staat zum zweiten Mal dran, diese zweite finnische Zeit geht noch bis Ende des Jahres 2021.
Das BSP dient anderen Weltregionen als Vorbild: Bei der internationalen BSP-Tagung „Global Citizen 2030“ in Damp in Schleswig-Holstein im Jahr 2018 waren Gäste von der südkoreanischen UNESCO-Kommission in Seoul und von der Sophia-Universität in Tokio, Japan, anwesend, um Struktur und Arbeitsweise des BSP kennenzulernen.
Nach Finnland wäre nun eigentlich Schweden der nächste Staat, der das BSP generalkoordiniert. Aber: Schweden hat aus Gründen, die im Lande selbst liegen, schon vor Jahren abgesagt.
Deshalb ist ab 1.1.2022 Dänemark an der Reihe, für drei Jahre, danach Deutschland. Eigentlich.
Dänen und Deutsche versuchen stattdessen etwas Neues:
Die dänische und die deutsche BSP-Koordination, in Absprache mit den nationalen UNESCO-Kommissionen in Kopenhagen und Bonn und den Bildungsministerien in Kopenhagen und Kiel, haben beschlossen: Sechs Jahre gemeinsame Generalkoordination sollen es sein, statt drei Jahre Dänemark und dann drei Jahre Deutschland, jeweils alleine.
Das hat es im BSP noch nicht gegeben. Zwei Staaten, Dänemark und Deutschland, werden das BSP gemeinsam koordinieren, sechs volle Jahre lang. Der vielleicht größte Vorteil: Nach einem Jahr Einarbeitungszeit – so lange braucht es gewöhnlich, um in die komplexe Aufgabe hineinzuwachsen – bleiben ganze fünf Jahre Zeit fürs Gestalten, für Spannendes und Neues, nicht nur zwei, bevor der Generalkoordinations-Stab weitergereicht wird.
Was soll das sein, das Spannende und Neue, das Dänen und Deutsche im BSP wollen? Der wichtigste Teil der Antwort besteht aus zwei Schlüsselbegriffen: Whole Institution Approach und das Prinzip Augenhöhe.
Bei einem Whole Institution Approach geht es vereinfacht gesagt darum, mehr Menschen in den Schulen an den BSP-Aktivitäten zu beteiligen, insbesondere Schülerinnen und Schüler, und mit allen Beteiligten auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten.
Das bedeutet zum Beispiel: Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler und weitere Beteiligte arbeiten auf Tagungen und Konferenzen fast immer gemeinsam, in gemischten Gruppen. Workshops werden, wo immer möglich, gemeinsam von Experten plus Schülerinnen und Schülern geleitet – und die Schülerinnen und Schüler sind dabei mitnichten die Kaffeeholer, sie arbeiten im Gegenteil auf Augenhöhe mit den Experten zusammen – eine entsprechende Workshopvorbereitung, die das möglich macht, gehört notwendig und selbstverständlich dazu.
Die Teilnehmenden in den Workshops sind gleichermaßen Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, angeleitet von den oben beschriebenen Workshopleitungen, also auch Schülerinnen und Schülern. Das bedeutet: Lehren und Lernen findet hier in alle Richtungen statt, ganz besonders wichtig: Hier lernen Lehrerinnen und Lehrer auch von Schülerinnen und Schülern. Alle Beteiligten machen neue, spannende Lehr- und Lernerfahrungen.
Whole Institution Approach bedeutet zum Beispiel, dass Schülerinnen und Schüler in Zukunft nicht einfach nur bei Projekten mitmachen, die ihnen angeboten werden. Schülerinnen und Schüler im BSP werden mehr und mehr, gemeinsam mit Lehrerinnen und Lehrern und mit den BSP-Koordinationen Projekte selbst gestalten. Mehr noch: Eine Reihe von Schülerinnen und Schülern wird Stück für Stück Teil der Entscheidungsstrukturen des BSP werden, ebenfalls auf Augenhöhe, und sie werden sich gründlich auf diese Aufgabe vorbereiten.
Dies alles geschieht zunächst im BSP Dänemarks und Deutschlands, mit der Zeit hoffentlich in immer mehr Schulen in den anderen sieben Staaten des BSP. Es gibt bereits Signale aus diesen Staaten, dass man auch dort den Whole Institution Approach für das BSP für eine gute Idee hält.
Der Anfang ist gemacht: Dänen und Deutsche sind im BSP schon seit Längerem dabei, ihre gemeinsame sechsjährige Generalkoordination gründlich vorzubereiten.
Liisa Jääskeläinen ist übrigens immer noch dabei. Längst pensioniert, ist sie eine wichtige Beraterin aus der Ferne, die der dänischen und deutschen Koordination hilft, mutig und vertrauensvoll zu sein. Und gelegentlich erinnert sie daran, warum es wichtig bleiben wird, Schülerinnen und Schüler aus neun Staaten entlang der Ostsee zusammenzubringen, immer wieder.
Am Schluss dieses Artikels steht eine Einladung zum Mitmachen und Mitgestalten: Das BSP ist offen für Weiterentwicklung und Veränderung, für neue Themen, für neue Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, für neue Mitgliedsschulen, aus Schleswig-Holstein und anderen Bundesländern. Auch externe Bildungspartner sind sehr willkommen.
Interesse? Informationen rund ums Mitmachen beim BSP gibt es beim Autor dieses Artikels.
Der Autor ist Landeskoordinator für Bildung für nachhaltige Entwicklung im Bildungsministerium Schleswig-Holstein und ehrenamtlich Koordinator der BSP-Schulen in Deutschland.